top of page

Wer am lautesten schreit…

  • Sabine Sickinger
  • 27. Mai
  • 4 Min. Lesezeit

Um zu verstehen, was in den Meetingräumen landauf, landab gelegentlich abläuft, lohnt ein Blick in die Natur.  


Frühjahr. Ein Nistkasten am Baum. Die Brut ist da. Erscheint nun Frau Meise am Nisteingang, so beginnt das Spektakel. Die Brut schreit. Die Brut reißt die Schnäbel weit auf. Die Brut veranstaltet einen Tumult, dass man nicht mehr weiß, wie viele es sind. Die Konkurrenz wird zur Seite geschoben, in die Ecke gedrängt, gezwickt, geschupst, geärgert. Das Ziel: das beste Futter zu bekommen. 


Parallelen zur Meeting-Welt? Nun ja, das braucht nicht viel Fantasie. Die Führungskraft betritt die Bühne und das Hauen und Stechen beginnt. Mit dem kleinen, vernachlässigbaren Unterschied: Statt um Futter geht es hier um Aufmerksamkeit und Zeit. Um gehört und um gesehen zu werden. 


Menschen haben ein Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zuwendung.

Zuwendung ist die Währung, mit der die Gunst der Chefs gemessen wird. Zuwendung kann positiv oder negativ ausfallen und sie kann bedingt oder unbedingt/bedingungslos sein. 


Interessant dabei: Menschen suchen Zuwendung. Die meisten fühlen sich wohl, wenn sie gemocht und anerkannt werden. Und wenn sie nicht die Form der Zuwendung bekommen, die ihnen guttut, dann geben sie sich mit etwas weniger zufrieden. Hauptsache, sie erhalten Aufmerksamkeit.  Die Zuwendungsreihenfolge aus dem Gebiet der Transaktionsanalyse erklärt das ganz gut. Hat man das Prinzip durchschaut, lassen sich viele Konflikte entschärfen. 


Zuwendungsreihenfolge & Typen

  1. Positive, bedingungslose Zuwendung „Schön, dass du da bist. Punkt.“ Wertschätzung der Person – unabhängig von Leistung. 

  2. Positive, bedingte Zuwendung „Dein Projektbericht war super – richtig strukturiert!“ Lob, aber geknüpft an Verhalten. 

  3. Negative, bedingte Zuwendung „Das Meeting hast du schlecht vorbereitet.“ Kritik an konkretem Verhalten. 

  4. Negative, bedingungslose Zuwendung „Was stimmt mit dir nicht?“ Persönlicher Angriff. Tiefschlag. 


Ein Beispiel. Herr Müller stellt Frau Meier ein. Top-Kandidatin, super Eindruck. Am ersten Tag gibt es die volle Willkommensrunde: „Wie schön, dass Sie da sind! Wir freuen uns sehr.“ Pralinen, Wein, Schulterklopfen – positive, bedingungslose Zuwendung pur. 


Was Frau Meier lernt: „Ich werde als Mensch willkommen geheißen. Offenbar bin ich hier gewollt – einfach so.“ 


Ein paar Wochen später: Frau Meier hat sich gut eingearbeitet, bringt tolle Ideen ein. Herr Müller lobt sie – aber nur noch für einzelne Leistungen: „Ihre Präsentation war wirklich klasse.“ Positive, bedingte Zuwendung. 


Was Frau Meier lernt: „Wenn ich gute Ergebnisse liefere, bekomme ich Anerkennung. Aber nur dann. Es zählt nicht, wer ich bin – sondern, was ich tue.“ 


Die Wochen gehen ins Land. Dann kommt der Punkt, an dem Herr Müller nur noch spricht, wenn etwas nicht gut läuft: „Sie müssen besser mit dem Team zusammenarbeiten. Und telefonieren Sie bitte leiser.“ Negative, bedingte Zuwendung. 


Was Frau Meier lernt: „Ich bekomme nur noch Rückmeldung, wenn etwas nicht passt. Ich muss aktiv nachfragen, um überhaupt ein Feedback zu bekommen. Und das ist dann meist unangenehm.“


Aber: Negative Aufmerksamkeit ist besser als gar keine. Frau Meier beginnt, sich öfter einzubringen – mit Vorschlägen, die vielleicht nicht ganz durchdacht sind. Sie unterbricht Kollegen in Meetings. Sie stellt Rückfragen, wo keine nötig wären. Sie betont ihre Leistung, wirkt zunehmend fordernd. Sie ist nicht aufmüpfig, sondern will gesehen werden. 


Was Frau Meier jetzt lernt: „Wenn ich nerve, bekomme ich wenigstens eine Reaktion. Wenn ich einfach nur meinen Job mache, kommt gar nichts.“ 


Später entsteht das Gefühl, sie selbst sei das Problem. 


Kleine Fehler führen zu Grundsatzfragen: „Ob Frau Meier überhaupt teamfähig ist?“ oder „Ob sie überhaupt in dieses Unternehmen passt?“ Eine ironisch formulierte E-Mail, ein schiefer Blick in der Kaffeeküche – alles wird negativ interpretiert. Und plötzlich steht nicht mehr ihr Verhalten, sondern Frau Meier als Person zur Diskussion. Negative, bedingungslose Zuwendung. 


Was Frau Meier lernt: „Ich bin hier nicht mehr richtig. Egal, was ich tue – ich scheine nicht zu genügen. Vielleicht sollte ich gehen.“


Zuwendung ist kein Nice-To-Have!

Chefs handeln in der Regel nicht in böser Absicht. Und Zuwendung ist kein „Nice-to-have“. Zuwendung und Aufmerksamkeit gehören schlichtweg zu den Basics der Führungsaufgaben – und sie entscheiden darüber, wie motiviert, sicher und verbunden sich Menschen im Unternehmen fühlen. Wer die Zuwendungsreihenfolge kennt, kann gezielt gegensteuern: 


  • Regelmäßig positive, bedingungslose Zuwendung geben – ein ehrliches: „Schön, dass Sie bei uns sind.“ 

  • Positives Verhalten sichtbar machen und benennen – aber ohne, dass Anerkennung zum reinen Leistungsfeedback verkommt. 

  • Kritik klar, aber konstruktiv äußern – immer mit dem Ziel der Entwicklung, nicht der Herabwürdigung. 

  • Persönliche Angriffe vermeiden – und stattdessen bei Beobachtungen und Verhalten bleiben. 


Warum Menschen anfangen zu stören 

Wenn keine wertschätzende Zuwendung mehr erfolgt – weder bedingungslos noch an Leistung gekoppelt – bleibt nur noch eins: Provozieren, auffallen, anecken. Ein stummer Blick. Ein provokanter Kommentar. Eine extra laute Stimme im Meeting. All das sind Versuche, wieder wahrgenommen zu werden. 


Denn: Wer keine Anerkennung für gute Leistung bekommt, wird sich Zuwendung auf andere Weise holen. Wenn das nicht durch Zustimmung klappt, dann eben durch Widerstand. 

 

In jedem Team gibt es „Brutkästen“ – Situationen, in denen Mitarbeiter um Aufmerksamkeit buhlen. Die Frage ist: Welche Art von Aufmerksamkeit wird verteilt? Wer nur schreit, um gesehen zu werden, hat vielleicht vorher zu lange gar nichts gehört.  


Mitarbeiter, die stören, nerven oder fordern – das sind oft keine „schwierigen Menschen“. Schau genau hin. Wann hast du dich das letzte Mal ernsthaft mit ihnen beschäftigt? Auf eine positive Art und Weise. Ist da wirklich jemand als Störenfried unterwegs oder eher verzweifelt: „Seht mich. Ich bin noch da.“ Frühzeitig die richtige Art von Zuwendung geben – damit Menschen nicht schreien müssen, um wahrgenommen zu werden. 


So wird aus einem hektischen Stimmengewirr im Meeting-Raum vielleicht wieder ein konstruktiver Dialog. Und Frau Meier? Die bleibt – weil sie weiß, dass sie zählt. 


 
 
bottom of page